Nachwirkungen eines Anschlags


KOPENHAGEN.Normalerweise steht Norwegen nur zweimal im Jahr für einen kurzen Augenblick im Zentrum der internationalen Medienöffentlichkeit: Wenn im Oktober der Preisträger für den Friedensnobelpreis bekanntgegeben wird und im Dezember, wenn diese wohl berühmteste aller internationalen Auszeichnungen bei einem Festakt im Rathaus verliehen wird. Doch am 22. Juli 2011 sorgte Anders Behring Breivik mit seinen Terrortaten dafür, dass seine Heimat Norwegen im Jahr der Tat und im Jahr danach immer wieder wegen Gewalt statt wegen Friedens wahrgenommen wurde. Der Anfang Dreißigjährige, der sich selber zum Terroristen geschult hatte, zündete erst im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe und tötete so acht Menschen. Dann fuhr er zur Insel Utøya, wo die Jugendorganisation der Sozialdemokraten (AUF) ihr traditionelles Sommerlager abhielt, und erschoss weitere 69 überwiegend junge Menschen. Ein ganzes Land war im Schock. Schießereien sind in Norwegen sehr selten, einen Terrorakt diesen Ausmaßes gab es nie zuvor und war wohl weder im In-, noch im Ausland von jemandem für wahrscheinlich gehalten worden.

Heute ist Anders Behring Breivik zu einer Haftstrafe von 21 Jahren verurteilt worden (dazu hier die englische Version meines Beitrags für die Deutsche Welle). Wie von ihm selber erhofft, wurde er vom Gericht für zurechnungsfähig gehalten. Gutachter waren sich in der Frage uneinig gewesen und auch in der Bevölkerung war diskutiert worden, inwieweit eine solch grausame Tat von einem Menschen begangen worden sein kann, der zurechnungsfähig ist.

„Die Attentate werden unsere Generation prägen“, sagt Lars Ellingsgard Øverli. Der Fotograf ist Anfang 20 und in den vergangenen Monaten mit zwei ebenfalls jungen Kollegen durch Norwegen gereist, um die Jugend zu portraitieren, die im Alter der Fotografen und damit der meisten, der auf Utøya Ermordeten ist. Er meint, dass der 22. Juli 2011 für diejenigen, die heute im jungen Erwachsenenalter sind, ähnlich einschneidend ist, wie für deren Großeltern der zweite Weltkrieg, in dem Norwegen von Deutschland besetzt war.

Unmittelbar nach der Bombenexplosion am Nachmittag dieses Freitags vor etwas mehr als einem Jahr dachten viele an möglichen islamischen Terror. Doch stattdessen handelte es sich um den Terror eines rechtsextremen Anti-Islamisten. Anders Behring Breivik hatte aus Hass gegen die offene Gesellschaft gemordet. In einem kruden Manifest, dass er vor der Tat verschickt hatte, breitete er seine von Verschwörungstheorien und Rassismus geprägten Gedanken aus. Auf den ersten Blick schien der Attentäter aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen: Er stammte aus so genanntem gutbürgerlichen norwegischem Hause, war zuvor nicht weiter aufgefallen, konnte sich artikulieren und hatte einmal eine kleine Karriere in der rechtsliberalen bis rechtspopulistischen, aber etablierten Fortschrittspartei gestartet. All dies machte den Schock in Norwegen anfangs nur noch spezieller. Denn während islamistischer Terror stets wenn auch unwahrscheinlich, so denkbar schien, hatte niemand mit einer derartigen Tat eines heimischen Rechtsextremisten gerechnet. Dass war die erste Illusion, die in Norwegen aufgegeben werden musste.

Darauf reagierte die Bevölkerung auf eine ganz eigene Weise. Während ein Attentat von Islamisten vermutlich nicht zu kollektiven Reaktionen geführt hätte, war es in diesem Falle ganz anders. Zu tausenden gingen sie bei Demonstrationen und Trauerveranstaltungen auf die Straße, Einwanderer und jene, die aus Familien stammen, die seit ein oder zwei Generationen in Norwegen gelebt haben, Politiker aller im Parlament vertretenen Parteien – sie alle wollten gemeinsam ein Zeichen setzen, dass sie diesen Teil der norwegischen Gesellschaft nicht akzeptieren. Gleichzeitig erweckte diese kollektive Demonstration zumindest auch den Anschein, dass in Norwegen eben doch alle an der offenen Gesellschaft festhalten wollen, die der Attentäter so hasste. In dieser so schweren Zeit des 5-Millionen-Einwohnerlandes wurde Premierminister Jens Stoltenberg zur einenden Kraft (dazu schrieb ich nach dem Attentat diesen Artikel für Focus). Der Sozialdemokrat wurde mit seiner Empathie zum Landesvater. Stoltenberg war die Lichtgestalt in diesem entsetzlich düsteren Trauerstück. Ein Held der ruhigen und besonnenen Worte. Einer, der trauert, tröstet und klagt. Und auf schnelle Anklagen verzichtet. Unvergessen seine Worte: „Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit. Aber niemals Naivität.“ Denn naiv war es gewesen zu glauben, solche Menschen wie Behring Breivik gäbe es in Norwegen nicht.

Es sei, so erklärt der bekannte Autor Øyvind Strømmen damals, zwar fantastisch, wie die Menschen in Norwegen jetzt reagieren. „Wichtig ist aber auch, wie es in den kommenden Monaten und Jahren weitergeht.“ Das Land habe Probleme, und diese müsse man jetzt auch ansprechen. Die großen gesellschaftlichen Debatten, so forderte Strømmen, müsse man in Zukunft zivilisierter und offener führen. Insbesondere die Frage nach der „richtigen“ Integrationspolitik. Politiker der rechtsliberalen Fortschrittspartei sehen Migranten bislang nur als Problem, die Linke hingegen weigert sich, Schwierigkeiten mit den Zuwanderern überhaupt nur anzusprechen. „Drogenprobleme im Einwanderermilieu, undemokratische Ideen, mangelnde Homosexuellenrechte, Anforderungen, die an Sprachkenntnisse gestellt werden – all das hat vor allem die Linke nicht ernsthaft diskutieren wollen“, klagte Strømmen. Dass laissez-faire eine Form der Liberalität ist, ist die zweite Illusion, die seit dem 22. Juli 2011 zersprungen ist (mehr dazu auch in meinem bei Focus online erschienen Interview mit Thorvald Stoltenberg, Ex-Minister und Vater des Ministerpräsidenten).

Die dritte Illusion zeigte bereits kurz nach dem Attentat Risse, wurde dann endgültig Mitte August 2012 zerstört: Jene, dass die Institutionen in Norwegen fehlerfrei arbeiten. Ein kurz vor der Urteilsverkündung präsentierter Untersuchungsbericht zeigt, dass das nicht der Fall war. Auch in Norwegen wurde geschlampt. Der Geheimdienst hatte den Attentäter schon einmal auf dem Schirm und hätte womöglich eingreifen können. Die Polizei machte am Tage der Anschläge viele Fehler, hätte die Jagd auf die Jugendlichen, bei der der Großteil der Opfer umkam, womöglich verhindern, zumindest aber früher stoppen können (zum Kommissionsbericht hier ein Kommentar, den ich für WDR 5 schrieb).

Der transparente Prozess (hier dazu ein Kommentar des Kollegen Gunnar Hermann von  der Süddeutschen, mein im Focus erschienenes Interview mit Siri Marie Seim Sønstelie, einer jungen Norwegerin, die entkommen konnte, hier das für die Financial Times Deutschland geschriebene Porträt der Richterin, hier wird im norwegischen Morgenbladet der Prozess positiv kommentiert, hier wird im Dagbladet analysiert, wie der Prozess in Breiviks Pläne passt) aber, der der Würde der Opfer ebenso wie den Menschenrechten des Täters gerecht wurde, hat Norwegen gezeigt, dass es möglich ist, diese Tat systematisch aufzuarbeiten. Damit sie nicht auf ewig wie eine Last auf dem Lande liegt und damit so etwas nicht noch einmal geschieht.

Absolute Sicherheit gibt es nicht, schon gar nicht in einer offenen Gesellschaft. Die Gesellschaft ist es aber auch, die Taten verhindern kann, ohne dass dafür totale Überwachung notwendig wäre. So simpel es klingt, aber manch einer wäre womöglich nicht zum Gewalttäter geworden, hätte er sich mehr integriert gefühlt und von den Nachbarn und Mitmenschen ein klein bisschen mehr Aufmerksamkeit erfahren. Aufmerksamkeit, die – sollte jemand doch in Extremismus abdriften – dazu führen kann, dass dieser gefährliche Schritt bemerkt und so Greuel verhindert werden. Für diese Erkenntnis ist nicht einmal eine Untersuchungskommission notwendig.

Analyse einer Tragödie


KOPENHAGEN. Am 22. Juli 2011 geschahen in Norwegen zwei Terroranschläge, heute präsentiert die zuständige Untersuchungskommission, was an dem Tag und zuvor schief gelaufen ist und wie die Tat womöglich hätte verhindert, zumindest aber der Attentäter früher hätte festgenommen werden und der Schaden so begrenzt werden können. Manche Erkenntnisse, die gerade auf der Pressekonferenz präsentiert werden führen nur zu Kopfschütteln. So war das Kennzeichen des Fluchtwagens bekannt, mit dem der Attentäter zur Insel Utøya fuhr, wurde aber bei der Polizei erst einmal liegengelassen. So passierte der Wagen unbehelligt mehrere Polizeiwagen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen NRK zeigt die Pressekonferenz, auf der der Bericht präsentiert wird live im Internet.

Zum Thema arbeite ich gerade an einem Kommentar, der heute abend im WDR 5 Politikum gesendet werden wird.

Trauer ein Jahr danach


Blumenmeer vor dem Dom in Oslo, Juli 2011. (Foto: Bomsdorf)
Blumenmeer vor dem Dom in Oslo, Juli 2011. (Foto: Bomsdorf)

KOPENHAGEN. Der Jahrestag der Anschläge von Oslo und Utøya darf auf einem Nordeuropa-Blog nicht unerwähnt vorübergehen. Kurz nach den Attentaten reiste ich für den Focus  in die norwegische Hauptstadt, wo ich nebenstehendes Foto machte. (Das Interview, das ich dort mit Thorvald Stoltenberg, dem ehemaligen Außen- und Verteidigungsminister und Vater des jetzigen Premierministers Jens Stoltenberg führte, kann hier online gelesen werden.)

Selber habe ich gerade in die Sendungen zum Jahrestag beim norwegischen Public-Service Sender NRK und dem schwedischen Pendant SVT geschaut, statt hier viele Worte zu verlieren, möchte ich lieber auf deren Sendungen verweisen, die auch via Internet zu sehen sind (NRK hier, SVT hier).

Ebenso empfohlen sei der Leitartikel „Ein Jahr danach“ im aktuellen Morgenbladet.

Norwegen vor einem langen Prozess


KOPENHAGEN. Dienstag in zehn Tagen (16.4.) beginnt in Oslo der Prozess gegen Anders Behring Breivik, der am 22. Juli in Norwegen 77 Menschen ermordet hat. In der Hauptstadt zündete er eine Bombe und auf der Insel Utøya mordete er mit Schüssen. Die 21-jährige Siri Marie Sønstelie war dabei und hat überlebt. Gemeinsam mit ihrem Vater, dem Journalisten Erik Sønstelie, schrieb sie das Buch „Jeg lever, Pappa“ (Ich lebe, Papa) über ihre Erlebnisse auf der Insel und in den Monaten danach. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor, für das Magazin Focus habe ich Siri Marie  Sønstelie aber schon einmal vor dem Prozessauftakt interviewt und zu Rachegefühlen, Verarbeitung des frausamen Erlebnisses und dem Leben nach den Morden befragt. Erhältlich nur in der gedruckten Ausgabe des Focus, erschienen am 6.4. .

Im Gespräch sagte Siri Marie immer wieder Sätze wie „Daran denke ich nicht viel“ oder „Darüber versuche ich nicht nachzudenken“, ihre Sprache ist nüchtern, distanziert; das ist ihre Art mit dem Geschehenen umzugehen. Sie hat ein Buch über das Attentat und ihr Leben danach geschrieben.  Obwohl auch das relativ nüchtern verfasst ist, sind ihre Schilderungen sehr nahe gehend. Was sie, ihre Familie und viele andere im ansonsten so friedlichen Norwegen erlebt haben, ist so grausam gewesen, dass es nicht ausgeschmückter, lebendiger Schilderungen bedarf, um den Leser mitfühlen zu lassen. Auch nüchtern vorgetragen sind die Fakten genug.

a-ha’s Magne zieht Konsequenzen aus Utøya- und Oslo-Terror


KOPENHAGEN. Die norwegische Band a-ha spielte kürzlich beim Gedenkkonzert für die Opfer der Terrorattacken in Norwegen am 22. Juli. Eigentlich hatte Magne F., wie sich Magne Furuholmen von a-ha als bildender Künstler nennt, am morgigen 1. September mit einer Einzelausstellung die neue Galerie Stolper + Friends in Oslo eröffnen wollen. Die Arbeiten, die er dort zeigen wollte, nahmen Ausgang in einem Krankenhausaufenthalt und waren teilweise auf Leinen von Krankenhausbetten gemalt. Dies so kurz nach dem 77mal tödlichem Terror von Norwegen zu zeigen, hielt der Künstler für unpassend und sagte die Schau ab. Stattdessen wird nun eine Damien Hirst Ausstellung die Galerie eröffnen. Statt Hai in Formaldehyd gibt es friedlichere Schmetterlingsbilder zu sehen. Hier dazu mein Bericht bei The Art Newspaper.

Stoltenberg über Stoltenberg und das norwegische Drama


KOPENHAGEN. Bevor es ein paar Tage zu Recherchen nach Island geht noch ein Hinweis auf das Interview, dass ich mit Thorvald Stoltenberg geführt habe, dem ehemaligen Minister und dauerhaften Vater des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg. Wir saßen einen Nachmittag im Wohnzimmer seiner Wohnung, wo er auch die Bombenexplosion gehört hatte, und sprachen über Familie, Terror, nordische Werte und Drogen. Die online Version des Gesprächs ist hier bei Focus online zu lesen.

Norwegens Trauerarbeit


OSLO. Die Nachrichten, die ich am 22. Juli und in den Tagen danach aus Norwegen vernahm, waren schrecklich. Die Ankunft in Oslo am Montagnachmittag machte mir die Trauer einmal mehr deutlich, aber auch wie gut die Norweger damit umgehen. In Trauer geeint trifft es wohl gut. Überall Blumen und Gedenktexte (wie auf dem Bild vor der Osloer Domkirche). Für die aktuelle Ausgabe des Focus habe ich ein Porträt über Jens Stoltenberg geschrieben, daneben vor allem am ersten Wochenende nach der Tat etliche weitere Artikel, Radio- und Fernsehinterviews, die online nicht zu haben sind.

Blumenmeer vor dem Dom in Oslo. (Foto: Bomsdorf)
Blumenmeer vor dem Dom in Oslo. (Foto: Bomsdorf)

Wie offen geht es weiter in Norwegen?


KOPENHAGEN. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat angekündigt sein Land solle noch offener und demokratischer werden. Wie offen haben sich das Land und die ganze Region Nordeuropa bisher gegeben und wie wird es weitergehen? Erste Gedanken dazu in meiner Agenda-Seite mit Lorenz Wagner in der heutigen Financial Times Deutschland (komplett derzeit nur nach Registrierung zugängig).

Seit Freitagnachmittag war ich ständig im Einsatz, um Hörfunk und Fernsehen meine Einschätzungen zu geben und für Printmedien zu schreiben. Große Tragödien rufen immer nach viel Berichterstattung, wichtig ist dabei, dass die Qualität erhalten bleibt. Wenn Vermutungen ausgesprochen werden, muss jedem Leser, Hörer und Zuschauer klargemacht werden, dass es sich nur um Vermutungen handelt und  Journalisten dürfen gerne auch einmal sagen: „Dazu kann ich zu diesem Zeitpunkt nichts sagen“. Den Ausspruch hat man von mir dieser Tage sicher häufiger gehört, doch Unwissenheit zuzugeben gehört zu professionellem Journalismus, Tatsachen zu behaupten ohne zu wissen, ob sie stimmen hingegen nicht.