Mit Stoltenberg sr. ist ein Großer gegangen

Hoffentlich jeder Journalist kann mindestens fünf Leute nennen, die er seit Berufsanfang für die Arbeit getroffen hat und die ihn wirklich beeindruckt haben – nicht wegen ihrer Karriere sondern als Menschen. In meinem Fall ist Stoltenberg einer davon. Eigentlich müsste ich „sind Stoltenbergs zwei“ schreiben. Sowohl der Vater, Thorvald Stoltenberg, als auch der Sohn, Jens Stoltenberg, haben einen bleibenden positiven und in gewisser Weise prägenden Eindruck hinterlassen. Prägend in dem Sinne, als das sie dazu beigetragen haben, dass ich auf manche Dinge in der Welt seit der Begegnung ein klein wenig anders schaue.

Thorvald Stoltenberg, der Senior also, war Diplomat, sozialdemokratischer Politiker und Außen- sowie Verteidigungsminister. Mitte Juli ist er 87-jährig in Oslo gestorben. Die Beerdigung fand erst vor wenigen Tagen statt und was da gesagt wurde, passt so gut zu dem Thorvald Stoltenberg wie ich ihn gut sieben Jahre zuvor erlebt hatte.

„Bei seinem Engagement ging es ihm stets um Menschen und darum, dass alle Menschen gleich viel wert sind“, sagte Arild Knutsen in seiner Ansprache. Was nach Allgemeinplatz klingt, kam bei Stoltenberg wirklich vom Herzen. Er, der „Einwanderer in die Arbeiterbewegung“ (so Hans Christian Gabrielsen, Chef des Gewerkschaftsverbundes LO – Stoltenberg kam aus einer großbürgerlichen Familie) litt lange unter einer Krankheit, die in den besten Familien vorkommen kann, aber aus Scham häufig verschwiegen wird.

Seine jüngste Tochter Nini war drogenkrank, heroinsüchtig, gewesen und unter dieser Krankheit litt natürlich die ganze Familie. Dank Stoltenberg litt sie aber nicht nur, sondern arbeitete sich gemeinsam so gut es ging daraus. Und half vielen anderen, verhalf vielen anderen vor allem zu Respekt – trotz Drogensucht. „Thorvald gab nie auf, und er hat am meisten geleistet, um Scham zu bekämpfen“, so Knutsen in seiner Trauerrede. Er leitet die Norwegische Vereinigung für eine humane Drogenpolitik leitet und war selber einmal abhängig. „Wenn andere sich abwendeten, war er es, der anrief und fragte, wie es einem gehe“, sagte Knutsen dann noch der Zeitung Aftenposten.

„Zur schlimmsten Zeit hatte ich tagsüber Termine in Brüssel und zurück in Oslo lief ich in der Stadt im Drogenmilieu herum, um sie zu finden. Ich wusste einfach nicht, wo sie war. Es geht doch nicht, sich nur um die großen Weltprobleme zu kümmern, aber nicht um die eigenen familiären.“ Mit diesen Worten schilderte Stoltenberg mir im Sommer 2011, wie er sich um seine Tochter gekümmert hatte. Bei aller Erinnerung an die Verzweiflung strahlte er dabei diese väterliche Wärme und Empathie aus, die man wohl nur dann bei Menschen spürt, die einem eigentlich nicht nahe stehen, wenn sie davon wirklich unglaublich viel haben und geben können. Der Anlass für das Interview in seiner Wohnung hinterm Schloss war ein sehr trauriger: Das Attentat vom 22. Juli 2011 bei dem der norwegische Mörder Anders Behring Breivik 77 Menschen, die meisten von ihnen jugendliche Sozialdemokraten, getötet hatte.

Stoltenberg hatte diese Gabe und natürlich stand er nicht nur seiner jüngsten Tochter nahe, sondern auch den anderen Kindern. Die ältere Tochter war dagegen gewesen, die Abhängigkeit der anderen in einem Buch publik zu machen, hat das aber revidiert, wie sie auf der Beerdigung schilderte. Und Jens? Der ist dem Vater wohl am meisten gefolgt, zumindest beruflich. Auch er wurde Minister, sogar Regierungschef und ist nun NATO-Generalsekretär.

Auch er schilderte seinen Vater sehr sympathisch – und humorvoll. „Thorvald war ein Gluckendster. Wir haben jeden Tag telefoniert“, so der internationale Spitzendiplomat. „Man ging es um die Welt, andere Male ums Wetter – oder darum, ob im Rauchalarm bei mir zu Hause Batterien waren.“ Sein Vater habe es an seiner Stimme erkannt, ob es ihm wirklich so gut ging, wie er sagte. „Wenn ich einen schlechten Arbeitstage hatte, musste ich erklären, was schiefgelaufen war, und dann hat er mich getröstet. Auch ein NATO-Generalsekretär braucht Trost vom Papa“, so Stoltenberg junior.

Jens Stoltenberg habe ich öfter erlebt als den Vater, wenn auch nur in kleineren Gesprächsrunden, nie aber wie den Vater eine längere Zeit lang alleine. Als das Attentat vom 22. Juli Norwegen traf, war Stoltenberg Premierminister. So schrecklich diese Tat war, so glücklich kann sich das Land schätzen, gerade ihn damals zum Regierungschef gehabt zu haben.

Es fiel in Stoltenbergs zweite Amtsperiode als Ministerpräsident. An dem Tag suchte der Terror Norwegen, bis dahin seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ein Land ohne derartige Gewalt, heim. Dieses grauenhafte Ereignis war ein riesiger Schock für die kleine Nation. Wie Stoltenberg damit umgegangen ist und wie es ihm gelungen ist, die Nation in Trauer und in ihrem Wunsch nach vorne zu blicken, zu sammeln, hat seine Stärken deutlich gemacht.

Er fand die richtigen Worte, war in den Tagen nach dem Anschlag nicht nur Spitzenpolitiker, sondern einende Kraft. Gleichzeitig machte er klar, dass die offene Gesellschaft sich nicht ihren Feinden ergeben dürfe. „Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, aber nicht mehr Naivität“, kündigte er an.

Auch politische Gegner zollen ihm höchsten Respekt. „Er hat die Nation durch diese schmerzhaften Tage gelotst mit einer Stärke, Wärme und Sicherheit, die wir nur bewundern können und für die wir dankbar sein müssen“, schrieb die Wirtschaftszeitung „Dagens Næringsliv“, sonst kein Freund der mitte-links Regierung. Stoltenberg, den die Norweger dreimal zum Ministerpräsidenten gewählt hatten, war in der Tragödie endgültig zum Landesvater geworden, weil er keine Angst davor hatte, zu zeigen, dass auch er mit den Tränen kämpfte. Wenn es keine Worte mehr gab, griff er zu kräftigen, langen Umarmungen. Er verhielt sich so, wie sich ein jeder seinen eigenen Vater wünscht, zeigte Gefühl, Mitgefühl und einen Ausweg und nahm damit jedem etwas von seiner Last. Es dürfte in der Familie liegen.

 

Hinterlasse einen Kommentar