Mit Stoltenberg sr. ist ein Großer gegangen


Hoffentlich jeder Journalist kann mindestens fünf Leute nennen, die er seit Berufsanfang für die Arbeit getroffen hat und die ihn wirklich beeindruckt haben – nicht wegen ihrer Karriere sondern als Menschen. In meinem Fall ist Stoltenberg einer davon. Eigentlich müsste ich „sind Stoltenbergs zwei“ schreiben. Sowohl der Vater, Thorvald Stoltenberg, als auch der Sohn, Jens Stoltenberg, haben einen bleibenden positiven und in gewisser Weise prägenden Eindruck hinterlassen. Prägend in dem Sinne, als das sie dazu beigetragen haben, dass ich auf manche Dinge in der Welt seit der Begegnung ein klein wenig anders schaue.

Thorvald Stoltenberg, der Senior also, war Diplomat, sozialdemokratischer Politiker und Außen- sowie Verteidigungsminister. Mitte Juli ist er 87-jährig in Oslo gestorben. Die Beerdigung fand erst vor wenigen Tagen statt und was da gesagt wurde, passt so gut zu dem Thorvald Stoltenberg wie ich ihn gut sieben Jahre zuvor erlebt hatte.

„Bei seinem Engagement ging es ihm stets um Menschen und darum, dass alle Menschen gleich viel wert sind“, sagte Arild Knutsen in seiner Ansprache. Was nach Allgemeinplatz klingt, kam bei Stoltenberg wirklich vom Herzen. Er, der „Einwanderer in die Arbeiterbewegung“ (so Hans Christian Gabrielsen, Chef des Gewerkschaftsverbundes LO – Stoltenberg kam aus einer großbürgerlichen Familie) litt lange unter einer Krankheit, die in den besten Familien vorkommen kann, aber aus Scham häufig verschwiegen wird.

Seine jüngste Tochter Nini war drogenkrank, heroinsüchtig, gewesen und unter dieser Krankheit litt natürlich die ganze Familie. Dank Stoltenberg litt sie aber nicht nur, sondern arbeitete sich gemeinsam so gut es ging daraus. Und half vielen anderen, verhalf vielen anderen vor allem zu Respekt – trotz Drogensucht. „Thorvald gab nie auf, und er hat am meisten geleistet, um Scham zu bekämpfen“, so Knutsen in seiner Trauerrede. Er leitet die Norwegische Vereinigung für eine humane Drogenpolitik leitet und war selber einmal abhängig. „Wenn andere sich abwendeten, war er es, der anrief und fragte, wie es einem gehe“, sagte Knutsen dann noch der Zeitung Aftenposten.

„Zur schlimmsten Zeit hatte ich tagsüber Termine in Brüssel und zurück in Oslo lief ich in der Stadt im Drogenmilieu herum, um sie zu finden. Ich wusste einfach nicht, wo sie war. Es geht doch nicht, sich nur um die großen Weltprobleme zu kümmern, aber nicht um die eigenen familiären.“ Mit diesen Worten schilderte Stoltenberg mir im Sommer 2011, wie er sich um seine Tochter gekümmert hatte. Bei aller Erinnerung an die Verzweiflung strahlte er dabei diese väterliche Wärme und Empathie aus, die man wohl nur dann bei Menschen spürt, die einem eigentlich nicht nahe stehen, wenn sie davon wirklich unglaublich viel haben und geben können. Der Anlass für das Interview in seiner Wohnung hinterm Schloss war ein sehr trauriger: Das Attentat vom 22. Juli 2011 bei dem der norwegische Mörder Anders Behring Breivik 77 Menschen, die meisten von ihnen jugendliche Sozialdemokraten, getötet hatte.

Stoltenberg hatte diese Gabe und natürlich stand er nicht nur seiner jüngsten Tochter nahe, sondern auch den anderen Kindern. Die ältere Tochter war dagegen gewesen, die Abhängigkeit der anderen in einem Buch publik zu machen, hat das aber revidiert, wie sie auf der Beerdigung schilderte. Und Jens? Der ist dem Vater wohl am meisten gefolgt, zumindest beruflich. Auch er wurde Minister, sogar Regierungschef und ist nun NATO-Generalsekretär.

Auch er schilderte seinen Vater sehr sympathisch – und humorvoll. „Thorvald war ein Gluckendster. Wir haben jeden Tag telefoniert“, so der internationale Spitzendiplomat. „Man ging es um die Welt, andere Male ums Wetter – oder darum, ob im Rauchalarm bei mir zu Hause Batterien waren.“ Sein Vater habe es an seiner Stimme erkannt, ob es ihm wirklich so gut ging, wie er sagte. „Wenn ich einen schlechten Arbeitstage hatte, musste ich erklären, was schiefgelaufen war, und dann hat er mich getröstet. Auch ein NATO-Generalsekretär braucht Trost vom Papa“, so Stoltenberg junior.

Jens Stoltenberg habe ich öfter erlebt als den Vater, wenn auch nur in kleineren Gesprächsrunden, nie aber wie den Vater eine längere Zeit lang alleine. Als das Attentat vom 22. Juli Norwegen traf, war Stoltenberg Premierminister. So schrecklich diese Tat war, so glücklich kann sich das Land schätzen, gerade ihn damals zum Regierungschef gehabt zu haben.

Es fiel in Stoltenbergs zweite Amtsperiode als Ministerpräsident. An dem Tag suchte der Terror Norwegen, bis dahin seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ein Land ohne derartige Gewalt, heim. Dieses grauenhafte Ereignis war ein riesiger Schock für die kleine Nation. Wie Stoltenberg damit umgegangen ist und wie es ihm gelungen ist, die Nation in Trauer und in ihrem Wunsch nach vorne zu blicken, zu sammeln, hat seine Stärken deutlich gemacht.

Er fand die richtigen Worte, war in den Tagen nach dem Anschlag nicht nur Spitzenpolitiker, sondern einende Kraft. Gleichzeitig machte er klar, dass die offene Gesellschaft sich nicht ihren Feinden ergeben dürfe. „Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, aber nicht mehr Naivität“, kündigte er an.

Auch politische Gegner zollen ihm höchsten Respekt. „Er hat die Nation durch diese schmerzhaften Tage gelotst mit einer Stärke, Wärme und Sicherheit, die wir nur bewundern können und für die wir dankbar sein müssen“, schrieb die Wirtschaftszeitung „Dagens Næringsliv“, sonst kein Freund der mitte-links Regierung. Stoltenberg, den die Norweger dreimal zum Ministerpräsidenten gewählt hatten, war in der Tragödie endgültig zum Landesvater geworden, weil er keine Angst davor hatte, zu zeigen, dass auch er mit den Tränen kämpfte. Wenn es keine Worte mehr gab, griff er zu kräftigen, langen Umarmungen. Er verhielt sich so, wie sich ein jeder seinen eigenen Vater wünscht, zeigte Gefühl, Mitgefühl und einen Ausweg und nahm damit jedem etwas von seiner Last. Es dürfte in der Familie liegen.

 

Ivar 50, Ingvar 91 (†)


IKEA Teelichte (Foto: Bomsdorf)
IKEA Teelichte (Foto: Bomsdorf)

Vorgestern noch ging ich durch eine der riesigen IKEA-Hallen und hörte aus den Lautsprechern, dass das Regal Ivar 50 Jahre alt werde. Natürlich bot „das unmögliche Möbelhaus“ auf das ohnehin schon preiswerte hölzerne Modulmöbel aus Anlass des Geburtstages nochmal Extrarabat.

Heute nun ist vermeldet worden, dass Ingvar Kamprad, der Gründer und bis zuletzt Aushängeschild der aus Südschweden stammenden Ladenkette gestorben ist. 91 Jahre wurde er alt. Über einen bevorstehenden Generationenwechsel schrieb ich schon vor gut fünf Jahren für die Financial Times Deutschland:

„IKEA-Gründer Ingvar Kamprad ist immer für Schlagzeilen gut. Derzeit hält er die schwedische Wirtschaftspresse mit Geschichten über seinen angeblichen Rückzug aus dem Imperium der unmöglichen Möbelhäuser in Atem. Die Zeitung Expressen hat gestern berichtet, dass der Unternehmensgründer sich mit nunmehr 86 Jahren aufs Altenteil zurückziehen wolle. Stattdessen sollten seine drei Söhne die Verantwortung im Konzern übernehmen. „Den Generationswechsel wird man natürlich merken können. Ingvar wird nicht länger dabei sein und seine Ansichten äußern, Rat und Unterstützung leisten, wie er es immer getan hat“, zitiert das Blatt Göran Grosskopf, den Aufsichtratschef der IKEA-Muttergesellschaft Ingka. Das klingt schon sehr nach Trauerrede auf einer Beerdigung. Entsprechend groß war die Aufregung in Schweden als der Artikel erschien.

Doch kaum waren diese Zitate in die schwedische Welt posaunt worden, machte der Konzern wieder einen Rückzieher. Das sei aus dem Zusammenhang gerissen und falsch verstanden worden, hieß es nun. „Ich muss unterstreichen, dass keine Veränderung ansteht“, so eine Sprecherin gegenüber di.se, der Online-Ausgabe von Schwedens Wirtschaftszeitung „Dagens Industri“. Auch Grosskopf machte einen Rückzieher. Dabei hat Expressen sich auch auf eine offizielle IKEA-Publikation bezogen. In der kommenden Nummer der Mitarbeiterzeitung nämlich würden die drei Söhne als neue Machthaber eingeführt. Tatsächlich heißt es darin wohl, dass Kamprad in Zukunft „eine etwas weniger aktive Rolle“ spielen wolle. Offiziell wird er derzeit als Senioratgeber geführt. Das kann alles oder nichts heißen, schließlich ist Seniorratgeber sowohl für den wahren Machthaber im Hintergrund eine gute Dienstbezeichnung als auch für den Machtlosen, der noch einen gut klingenden Titel braucht. Jedenfalls solle Kamprad Seniorratgeber bleiben, heißt es IKEA. Auch dort ist diese Position recht unklar definiert und weil IKEA als nicht notiertes Privatunternehmen nur wenigen Publikationspflichten unterliegt, ist ohnehin unklar, wie der Konzern genau aufgebaut ist und wer wo das Sagen hat.

Ebenfalls gestern ging der Konzern dann noch an die Presse und sagte, das im kommenden Jahr der seit 2009 amtierende Vorstandschef Mikael Ohlsson ausgetauscht werden solle. Der Schweden-Chef Peter Agnefjal werde übernehmen, sonst bleibe alles beim alten.

Auch wenn Kamprad drei Söhne und zahlreiche hohe Manager hat, ist er immer derjenige, der das Unternehmen nach Außen repräsentiert und auch für die Unternehmenskultur steht. Auch im hohen Alter lässt Kamprad es sich nicht nehmen bei Warenhauseröffnungen oder anderen Veranstaltungen dabei zu sein. Von den überwiegend jungen Mitarbeitern vor Ort, die die Möbel verkaufen, wird er dann gefeiert wie eine Mischung aus Großvater und Oberhaupt einer Sekte.

Dieses Gebahren lässt dann auch eine Vermutung zu: Kamprad wird abtreten und das ist beschlossene Sache, aber dies zu verkünden, dass wird er nicht seinem Aufsichtsratsvorsitzenden oder irgendeinem anderen überlassen. Nein, Kamprad, der eine Art Steve Jobs der Möbelbranche ist, wird seinen Rückzug selber bekannt geben. Alles andere ziemt sich nicht für jemanden, dessen Kultstatus es mit dem eines alternden Rockstars aufnehmen kann.“

Cevian revisited


KOPENHAGEN. Ziemlich genau auf den Tag zwölf Jahre ist es her, dass mein Interview mit dem schwedischen Investor Christer Gardell in der Financial Times Deutschland (FTD) erschien. Seither haben er und sein Fonds Cevian Capital in Europa immer wieder für Furore gesorgt – auch weil längst eingetreten ist, was Gardell vor über zehn Jahren noch für ziemlich unwahrscheinlich hielt: Cevian ist in Deutschland aktiv geworden, wobei aktiv hier auch für aktivistisch steht, denn ein solcher Fonds ist Cevian Capital. Im Dezember 2017 schrieb ich erneut über Cevian – diesmal für ein aktuelles Unternehmensporträt für Die Zeit (das Stück ist online hier zu lesen).

Als Rückblick hier auch nochmal mein Stück aus der FTD vom 6. Januar 2006 (wenn da noch der ein oder andere Umlaut fehlt – die hat das Archiv gefressen):

Firmenjäger Gardell warnt Börsen

Schwedischer Großanleger sieht Stellung der europäischen Aktienmärkte durch Private Equity bedroht – FTD-Interview

Clemens Bomsdorf, Stockholm

Der schwedische Firmenjäger Christer Gardell sagt Europas Börsen einen massiven Bedeutungsverlust voraus. „Die attraktiven Deals finden zunehmend zwischen Private-Equity-Gesellschaften statt. Wenn dieser Trend nicht umgedreht wird, sind die Börsen bedroht“, sagte Gardell der FTD. Es bestehe die Gefahr, dass künftig nur noch Aktien zweitrangiger Unternehmen gehandelt werden.

Der Schwede ist einer der einflussreichsten Nordeuropäischen Investoren. Er steht hinter der Investmentgesellschaft Cevian Capital und ist Vertrauter des US-Großinvestors Carl Icahn. Icahn hat schwedischen Medien zufolge mehr als 100 Mio. € in Gardells Fonds investiert. Gardell ist ein aktiver Aktionr wie die Private-Equity-Fonds, kauft aber meist Anteile an börsennotierten Werten und setzt auf Kurssteigerungen.

Über Cevian steigt Gardell mit 5 bis 20 Prozent bei Unternehmen ein, die er für unterbewertet hält. Als so genannter Firmenjger meint er, durch einen Wechsel von Strategie, Eignern oder Management oder den Verkauf einzelner Unternehmensteile den Wert einer Firma beträchtlich steigern zu knnen. Diese Manßahmen versucht er durchzusetzen, indem er sein Stimmrecht nutzt und andere Investoren ebenfalls auf seine Seite zieht.

Die Private-Equity-Gesellschaften würden die attraktiven Unternehmen mit hohem Cashflow von der Börse nehmen und dann untereinander handeln, fürchtet Gardell. „An den Börsen wird es dann vor allem die riskanteren Unternehmen mit Ideen, aber wenig Cashflow geben.“ Er wies aber gleichzeitig darauf hin, dass die zunehmende Bedeutung der Private-Equity-Branche für die Wirtschaft förderlich sei.

Cevian hält derzeit unter anderem Anteile am Finanzkonzern Skandia sowie der Textilkette Lindex aus Schweden, dem finnischen Maschinenbauer Metso und der norwegischen IT-Firma Visma. 2005 hat der Fonds mit seinen Engagements eine Rendite von rund 90 Prozent erwirtschaftet. Das Volumen beträgt 650 Mio. €. Anfang 2006 wird diese Summe komplett investiert sein. Dann will Gardell einen neuen, größeren Fonds mit einem Volumen von mindestens 1 Mrd. € auflegen, an dem sich auch wieder Icahn beteiligen wird. „Wir werden dann auch verstärkt bei größeren Unternehmen einsteigen“, kündigte Gardell an.

Wie gehabt bleiben dabei die nordischen Länder der Anlageschwerpunkt. „Vom Corporate-Governance-Aspekt her ist Nordeuropa sehr attraktiv, weil aktionärsfreundlich“, sagte Gardell. In Nordeuropa ist er derzeit lediglich in Island und Dänemark nicht investiert. „Wir würden in Dänemark gern ein Investment machen und gucken uns das Land sehr genau an“, sagte Gardell. Daneben schaue Cevian Capital sich jedoch auch andere europäische Länder an. Am wahrscheinlichsten sei ein Einstieg in Großbritannien oder der Schweiz, sagte der Großanleger.

Investitionen in Deutschland will Gardell nicht ausschließen, hält sie aber für weniger wahrscheinlich. „Kleine Aktionäre haben dort üblicherweise relativ wenig Einfluss. Allerdings hat der Fall Deutsche Börse das Gegenteil bewiesen“, sagte er. Dennoch sei es in Deutschland in der Regel schwerer, das Management oder den Aufsichtsrat auszutauschen. Allerdings bekomme er jede Menge Anfragen von deutschen Investoren, so Gardell.

Üblicherweise steigt der Fonds Cevian Capital mit Minderheitsbeteiligungen ein und versucht mit der Unterstützung anderer Investoren, einen Platz im Aufsichtsrat zu bekommen, um die Unternehmenspolitik aktiv beeinflussen zu können. Wenn Gardell bei einer Firma in Nordeuropa einsteigt, ist das für ausländische Investoren ein Signal, ebenfalls Aktien zu kaufen. So stieg der Anteil ausländischer Anteilseigner bei der schwedischen Textilkette Lindex nach seinem Einstieg von unter 10 auf gut 50 Prozent. „Es ist wichtig, Unterstützung von anderen zu bekommen. Wir haben exzellente Beziehungen zu einer Reihe globaler Investoren“, so der Schwede.

Mit diesen kooperierte er auch beim Kampf um Skandia. Gardell ist einer der zwei Skandia-Aufsichtsräte, die sich für eine Übernahme durch die südafrikanische Old Mutual ausgesprochen haben. Der Schwede gab zu verstehen, dass er nach der geplanten Übernahme in den Aufsichtsrat von Old Mutual wechseln wolle. Cevian wird dann rund ein Prozent an Old Mutual halten. Die Frist für das Angebot zur Übernahme von Skandia läuft Mitte des Monats aus, bisher haben rund 60 Prozent der Aktionäre zugestimmt. Mindestens zwei Fonds haben dem Vernehmen nach ihre Zustimmung aber wieder zurückgezogen. Sollte die Übernahme scheitern, will Gardell dennoch in Skandia investiert bleiben.

FTD 20160106 S.17

Die sklerosekranke Marathonmarathonfrau


Fredskov lagert ihre vielen hundert Medaillen normalerweise in einer schnöden Kiste im Schuppen. Hier liegen sie auf dem Fußboden ihrer Küche. (Foto: Bomsdorf)
Fredskov lagert ihre vielen hundert Medaillen normalerweise in einer schnöden Kiste im Schuppen. Hier liegen sie auf dem Fußboden ihrer Küche. (Foto: Bomsdorf)

BERLIN. Annette Fredskov ist für mich die Marathonmarathonfrau. Denn sie lief einen Marathon an Marathons. Das dürfte einmalig sein: 366 Marathons in 365 Tagen. Über ein Jahr lang lief die Dänin jeden Tag einen Marathon. Und am letzten Tag sogar zwei. Dem Klischee nach hat sie diese selbstgestellte Herausforderung nur mit eiserner Disziplin meistern können. Doch es war viel mehr Spaß dabei und die Kraft, die Sie aus den vielen Läufen zog, die Fredskov dazu brachte ein Jahr durchzuhalten. Nicht nur sich, auch anderen hat sie damit etwas bewiesen. Denn Fredskov hat die Diagnose Multiple Sklerose und wollte solange sie kann diese weltbekannte Strecke laufen. Zur mentalen und körperlichen Energie, die sie dadurch bekommen hat, versucht sie nun anderen zu verhelfen, indem sie in Vorträgen erzählt, wie sie diese Leistung vollbracht hat. Gemeinsam mit dem Fotografen Simon Skreddernes habe ich Fredskov im Sommer in Dänemark besucht. Mein Porträt der Marathonmarathonläuferin ist soeben im Magazin Credo erschienen und kann hier gelesen werden, die Slideshow dazu mit Auszügen aus den Gesprächen mit Fredskov gibt es hier.

Frauke Petrys Blaue Zukunft gibt es schon – in Finnland


Farbenspiele im winterlichen Helsinki (Foto: Bomsdorf)
Farbenspiele im winterlichen Helsinki (Foto: Bomsdorf)

BERLIN. Frauke Petry verlässt die AfD und gründet angeblich eine neue Partei mit „blau“ im Namen. Schon ihr Vorwurf an die neuen Chefs (wenn man Gauland, Weidel so bezeichnen mag), dass sie ihr zu rechts geworden seien, erinnert sehr an Finnland. Nun also auch der Name.

In Finnland wählten die Wahren Finnen (auch Basisfinnen genannt) mit Jussi Halla-aho im Juni 2017 einen neuen Parteivorsitzenden, der seinem Vorgänger, Außenminister Timo Soini, zu rechts wahr und zwar so viel, dass er die Partei verließ und damit die Regierung rettete. Soini hat dann die Blaue Zukunft gegründet. Die Abspaltung ist in gewisser Weise mit der von Petry zu vergleichen, einmal war es der frühere Vorsitzende, der in der Regierung war, einmal die amtierende Vorsitzende, die samt ihrer Partei erstmals in das nationale Parlament kam.

Der Blauen Zukunft werden weniger als 2% der Wählerstimmen vorausgesagt während sich die Wahren Finnen noch bei mehr als 10% halten. Womöglich wird Petrys Neugründung auch dieses Schicksal blühen. Einen Artikel von mir zu Dänischen Alternativen für Deutschland gibt es hier.

Wahlforscher mit Humor


BERLIN. Frank Aarebrot war es nicht vergönnt das Ergebnis der gestrigen norwegischen Parlamentswahl mit zu erleben (Amtsinhaberin Erna Solberg hat es noch einmal geschafft). Dabei war die praktische Politik das Thema des gefragten Politologe, den auch ich mehrmals interviewt habe. Die Norweger sind anders als die Dänen (mit Filmen wie „In China essen sie Hunde“ oder „Der grüne Schlachter“) außerhalb Ihres Landes nicht gerade berühmt für Ihren Humor. Wer die Sprache versteht, weiß aber, das norwegischer Humor international mithalten kann.

Mit dem Professor Frank Aarebrot gibt es sogar einen Clip, in dem er auch die ohne Norwegischkenntnisse – es reicht zu wissen, dass er in professoraler Manier darüber lamentiert, dass sich das Fernsehen nicht für ernsthafte Diskussionen eigne, weil die Zuschauer durch zu viele sinnliche Eindrücke abgelenkt würden – ausnahmsweise mal nicht nur an die Politik seines Landes, sondern auch an deren Humor heranbringt. Noch mehr zu Aarebrots Leben und Wirken hier im norwegischen Netz. In dem Text des öffentlich-rechtlichen Senders erzählt Sohn Erik auch, dass Aarebrot mit Freude noch geschafft habe, zu wählen.

Eine wird gewinnen?


Oslo am Nationalfeiertag, 17. Mai 2017. Foto: Bomsdorf
Oslo am Nationalfeiertag, 17. Mai 2017. Foto: Bomsdorf

BERLIN. Es ist Wahltag – in Norwegen. Gut zwei Wochen vor der Bundestagswahl bemüht sich Ministerpräsidentin Erna Solberg um Wiederwahl. Die Chancen der konservativen norwegischen Regierungschefin stehen nicht ganz so gut wie die von Angela Merkel. Die aktuelle Minderheitsregierung aus Solbergs Høyre (H) und der rechtsliberalen bis rechtspopulistischen Fremskrittspartiet (Fortschrittspartei, FrP) würde laut einer Umfrage des Senders NRK eine hauchdünne Mehrheit erzielen. So hauchdünn, dass diese alles andere als gewiss ist. Zumal die zwei Parteien, die die Koalition stützen nicht so begeistert sind, mit FrP zusammenzuarbeiten. Details dazu in meinem Beitrag für Das Parlament und hier:

Dabei stehen die Wirtschaftsdaten auf Wiederwahl. Gemäß der Theorie, dass in stabilen ökonomischen Zeiten eine Regierung bestätigt wird, dürfte Erna Solberg sich eigentlich keine Sorgen machen. „Unsere Partei hat Norwegen durch den schlimmsten Ölpreisfallin 30 Jahren gesteuert. Nun ist es wichtig, dass die Modernisierung Norwegens nicht stoppt“, so die Ministerpräsidentin des Landes, das für Deutschland einer der wichtigsten Energielieferanten ist.

Tatsächlich kann die Regierungschefin darauf verweisen, dass das ohnehin wohlhabende Norwegen dabei ist, die leichte ölpreisbedingte Krise hinter sich zu lassen. Seit einem Jahr fällt die Arbeitslosigkeit wieder und hat zuletzt 4,3 Prozent erreicht. Das pro-Kopf-Einkommen liegt in Kaufkraft berechnet 50% über dem EU-Schnitt und Anfang des Jahres verkündete die UN sogar, dass in Norwegen die glücklichsten Menschen leben.

Glücklich, aber unentschieden, könnte man sagen. Denn trotz dieser Daten sind die Parteien des „Blauen Blocks“ rechts der Mitte unter Führung von Solberg in den Umfragen in etwa gleich auf mit der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und deren Partnern. In Norwegen werden häufig Minderheitsregierungen eingegangen. So koalierte Solbergs Høyre in der nun zu Ende gehenden Wahlperiode nur mit der rechtsliberalen bis rechtspopulistischen Fortschrittspartei (FrP). Die beiden ließen sich von der christlichen Volkspartei KrF und der sozialliberalen Venstre V stützen. Gemeinsam kommen sie allenfalls auf eine hauchdünne Mehrheit und dabei ist noch nicht einmal sicher, ob KrF und V den Sprung über die Sperrgrenze von 4% schaffen.

Offiziell koalieren wollen die beiden mit der derzeitigen Regierung ohnehin nicht. Sie stören sich an der FrP.  Vor allem deren Einwanderungs- und Integrationsministerin Sylvi Listhaug ist dafür bekannt, gegen Migranten zu polemisieren. Ihre heftigen Kommentare erwecken für KrF-Chef Knut Arild Hareide den Eindruck, dass sie den integrierenden Teil ihrer Arbeit vergessen habe. „Wenn Integration gelingen soll, ist Vertrauen sehr wichtig, das muss sie schaffen und Radikalisierung und Ausgrenzung verhindern“, so Hareide.

Lange sah es so aus, als würde FrP daunter leiden, an die Regierung gekommen zu sein. In den meisten Umfragen seit der Wahl vor vier Jahren lag die Partei weit unter dem Wahlergebnis von 16,3%, meist gar nur bei rund 12% oder weniger. Es sah also aus, als habe sich einmal mehr bewahrheitet, dass populistische Oppositionsparteien an Unterstützung verlieren, wenn sie eingebunden werden und Verantwortung übernehmen müssen. Doch zuletzt hat FrP wieder aufgeschlossen und könnte das Ergebnis von vor vier Jahren gar knapp übertreffen während Høyre voraussichtlich etwas auf um 25% abfällt.

Nicht nur die Grundlinien der Integrationspolitik, auch bei den Themen Öl und Klima gibt es unter den vier Parteien des „Blauen Blocks“ Uneinigkeit. So fordern KrF und V, dass vor den Lofoten-Inseln auch in Zukunft nicht nach Öl gebohrt wird. Weil sowohl die Natur als auch die Ressourcenwirtschaft in Norwegen besonders wichtig sind, ist dies seit Jahren ein zentraler Streitpunkt, der aber immer dringlicher wird. Denn mit der Erschließung neuer Gebiete steigt die Chance länger eine reiche Ölnation zu bleiben.

Links der Mitte gibt es den selben Streit. Dort steht die Arbeiterpartei Ölbohrungen vor den Lofoten am offensten gegenüber. Das aber dürfte nicht der Grund dafür sein, dass die Partei vermutlich eines der schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte erzielen wird. Ein Problem für die Sozialdemokraten ist, das deren Lieblingsthema Beschäftigung für die Wähler angesichts der guten Arbeitsmarktlage nicht nur nicht so relevant ist, sondern sie dort Høyre Umfragen gemäß auch mehr zutrauen. Obwohl Norwegen eine kleine Grenze zu Russland hat, spielt das Verhältnis zu dem Nachbarn im Wahlkampf keine wirkliche Rolle.

So wurde Liu Xiaobo 2010 in Abwesenheit mit dem Friedensnobelpreis geehrt


KOPENHAGEN. Ein leerer Stuhl, eine rotes Kleid, heruntergelassene Rollläden – so symbolisch wie 2010 war die Zeremonie zur Verleihung des Friedensnobelpreises wohl selten. Damals sollte der chinesische Dichter und Dissident Liu Xiaobo geehrt werden, vor Oslo in Oslo wurde deutlich, welche Bedeutung der aktuelle Tträger des Friedensnobelpreises für die internationale Politik hatte. Aus Anlass seines Todes mein damaliger Bericht aus Oslo (und hier geht es zu meinem damaligen Artikel für Die Welt):

„Wie jedes Jahr sind auch an diesem 10. Dezember internationale Persönlichkeiten und hochrangige Vertreter der mächtigsten Staaten in das Rathaus der norwegischen Hauptstadt gekommen. Vor dem monumentalen Backsteinbau dicht am Hafen liegt Schnee, die Luft ist trocken und kalt – das Thermometer zeigt minus 11 Grad. Die geladenen Gäste gehen seit 12 Uhr ins Rathaus rein, korrekt nach Zeitplan betritt 59 Minuten später das Königspaar den Mittelgang und setzt sich ganz nach vorne auf zwei dort platzierte Stühle, schräg dahinter Botschafter, Menschenrechtsaktivisten, Politiker – rund 1000 Menschen sind anwesend.

Doch ganz vorne auf dem Podium bleibt ein Stuhl leer. Die Hauptperson ist abwesend. Liu Xiaobo, der mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis geehrt wurde, ist nur durch ein Foto vertreten. Lächelnd zeigt ihn das riesige Bild, das an der Wand hängt. Doch er selber sitzt gefangen in China.

Nicht einmal ein Familienmitglied durfte nach Nordeuropa kommen und statt seiner den Preis annehmen. Deshalb wird der Friedensnobelpreis dieses Jahr zum zweiten Mal in seiner Geschichte nicht ausgehändigt.

Und deshalb spricht Torbjørn Jagland, Vorsitzender des Nobelkomitees und norwegischer Parlamentarier, nur über, aber nicht zu Liu Xiaobo. Gleich zu Anfang seiner Rede sagt er den simplen Satz „Wir gratulieren Liu Xiaobo zum diesjährigen Friedensnobelpreis“. Kaum sind die Worte gefallen bricht heftiger Applaus aus, der schnell in stehende Ovationen übergeht. Diese Art der Unterstützung ist nicht üblich am 10. Dezember in Oslo. Natürlich wurde auch in den anderen Jahren applaudiert, aber es nicht aufgestanden.

Ganz vorne im Mittelgang steht Königin Sonja und klatscht in die Hände. Sie trägt ein rotes Kleid – obwohl die Heimat des Preisträgers die Zeremonie boykottiert und keinen Regierungsvertreter geschickt hat, ist die Nationalfarbe Chinas im Osloer Rathaus also unübersehbar.

Statt des Preisträgers hält Liv Ullmann eine Art Ersatzdankesrede und liest einen Text von Liu Xiaobo vor. Nicht irgendeinen, sondern seine Verteidigungsrede, gehalten vor einem Gericht in China im Dezember 2009. „Meinungsfreiheit ist die Grundlage der Menschenrechte, die Quelle der Humanität und die Mutter der Wahrheit. Freiheit zu strangulieren bedeutet die Menschenrechte mit Füßen zu treten, Menschlichkeit zu ersticken und die Wahrheit zu unterdrücken“, trägt Ullmann Liu Xiaobos Worte vor.

Liu Xiaobo hat sein Beharren darauf seine Meinung zu sagen bereits mehrfach ins Gefängnis gebracht. Derzeit sitzt er in Haft, weil vor zwei Jahren von ihm und etlichen anderen Intelektuellen die Charta 08 präsentiert wurde. Die Unterzeichner forderten in ihrem Land grundlegende Menschenrechte ein. Genug für die Machthaber Liu Xiaobo als zentrale Person im Jahr darauf zu einer elfjährigen Gefängnisstrafe zu verurteilen. Man habe an ihm ein Exempel statuieren wollen und durch die Verurteilung einer der zentralen Akteure andere abschrecken wollen ähnliches zu tun.

Liu Xiaobo hat sich gewünscht, dass diese seine Worte vom Prozess vor einem Jahr nun in Oslo nochmals verlesen werden, denn so wendet er sich an die Öffentlichkeit. Immerhin, diesen Wunsch nach draußen zu tragen, konnten die chinesischen Behörden nicht verhindern.

In Oslo gibt sich die Volksrepublik zugeknöpft. Zwar werden auf der Homepage der Botschaft jede Menge Statements gegen die Preisverleihung veröffentlicht, doch niemand geht in der Vertretung des Landes ans Telefon. Stünden nicht die Autos vor dem Botschaftsgebäude im noblen Westen der norwegischen Hauptstadt und wären da nicht die frischen Spuren im Schnee, man könnte meinen, China hätte sich aus Norwegen zurückgezogen.

An allen Fenstern sind die Rollläden heruntergelassen, kein Mensch ist zu sehen. Das sah am Vortag noch anders aus. Donnerstag waren immerhin die chinesischen Regimegegner zur Stelle und protestierten vor der Botschaft für Liu Xiaobo. Mit dabei war Leung Kwok-hung, regimekritischer linker Politiker aus Hong Kong. Am Tag der Zeremonie steht er vor dem Osloer Rathaus und ruft mit anderen Chinesen im Chor „Release Liu Xiaobo“ (Lasst Liu Xiaobo frei) und „Democracy for China“ (Demokratie für China). Sie halten ein Spruchband und ein Schild mit dem Foto des Preisträgers in den Händen. Es ist keine große Gruppe an Demonstranten, die sich da zusammengefunden hat, aber sie kriegen jede Menge Aufmerksamkeit von Polizei und Presse und die einflussreichen Geladenen, die keine hundert Meter entfernt zur Zeremonie ins Rathaus laufen, hören die Rufe noch. „Man darf niemals aufgeben“, sagt Leung Kwok-hung. Er glaubt nicht, dass Liu Xiaobo alsbald freikommt, aber ist zuversichtlich, dass seine Rufe nicht überhört werden. „Ich bin auch zur Zeremonie eingeladen, glaube aber, dass ich mehr bewirken kann, wenn ich hier draußen stehe und demonstriere“, sagt er.

Protestler Leung Kwok-hung und Preisträger Liu Xiaobo sind nicht die einzigen Geladenen, die nicht ins Osloer Rathaus gekommen sind. Selbstverständlich hat China keine offiziellen Vertreter geschickt. Das mächtige asiatische Land hat sich aber auch bemüht, möglichst viele andere Staaten dazu zu bringen, der Preiszeremonie fernzubleiben. Bei siebzehn weiteren war Liu Xiaobos Heimatland erfolgreich. Unter anderem kamen die Vertreter Russlands, Vietnams und Kasachstans nicht. Anders als Liu Xiaobo haben sie aber die Wahl gehabt, hätten kommen können. Doch statt durch Anwesenheit setzen sie lieber durch Abwesenheit ein Zeichen. Es ist ein stiller Protest, eine unsichtbare, aber wahrnehmbare Solidaritätserklärung mit der chinesischen Regierung. Wirtschaftliche Gründe dürften dabei eine große Rolle gespielt haben.

Auch Teile der norwegischen Wirtschaft hatten die Wahl Liu Xiaobos anfangs kritisiert. Wie für so viele andere Länder ist China auch für Norwegens Unternehmen in erster Linie ein großer Markt. Die Wirtschaftszeitung „Dagens Næringsliv“ stützte am gestrigen Tag der Preisverleihung in ihrem Leitartikel die Entscheidung des Nobelkomitees. Norwegen habe zwar schon eine Strafe zu spüren bekommen, nämlich den Aufschub eines Freihandelsabkommens. „Aber genau deshalb ist der diesjährige Friedenspreis so wichtig und so richtig. Wenn ökonomische und strategische Interessen die Wahl des Kandidaten diktieren, gibt es eine große Gefahr, dass der Friedenspreis seine Bedeutung verliert“, heißt es in dem Leitartikel. Der diesjährige Preis handle von so etwas grundlegendem wie, dass niemand wegen seiner Meinungen im Gefängnis sitzen solle. „Das ist ein Prinzip, das wir verteidigen müssen, unabhängig davon, wieviel es kostet“, so der Kommentator.

Bereits viermal zuvor hatte ein Geehrter nicht nach Oslo kommen können, um den Preis anzunehmen. Doch selbst die Diktaturen in Polen, der Sowjetunion und Burma konnten nicht verhindern, dass Verwandte von Andrej Sakharov, Lech Wales und Aung San Suu Kyi den Preis entgegennahmen.

Deshalb wird China dieser Tage immer wieder gleichzeitig mit der Nazidiktatur in Deutschland genannt. Denn Deutschland unter Hitler ist der andere Staat, der einen Preisträger nicht aus der Gefangenschaft entlassen wollte, um nach Norwegen zu reisen.

Carl von Ossietzky, der 1936 den ihm im Jahr zuvor anerkannten Nobelpreis entgegennehmen sollte, saß damals im Konzentrationslager. Wie China heute, so versuchte Deutschland damals, möglichst viele von der Teilnahme an der Zeremonie in Oslo abzuhalten. Diese Parallele wird von den Medien immer wieder aufgegriffen, das Nobelkomitee aber hält sich mit diesem Vergleich zurück. Chinas Gebahren mit dem Hitlers zu vergleichen könnte zu sehr danach aussehen die beiden Regime auch nur ansatzweise gleichzusetzen.

Dafür erinnert Jagland daran, dass selbst der Iran im Jahr 2003 die damalige Preisträgerin, die iranische Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi, nicht daran gehindert habe, nach Oslo zu reisen, ja, damals sogar der iranische Botschafter in Norwegen zur Zeremonie gekommen sei. Solche Mahnungen müssen der chinesischen Führung, die international sonst besseres Ansehen genießt als die iranische, wehtun und – so hofft Jagland vermutlich – sollten ihr zu denken geben. Gleichzeitig lobte er China für die enorme wirtschaftliche Entwicklung, die das Land durchgemacht hat. Es müsse sich aber auch sonst öffnen, mahnt Jagland an.

China wird die Rollläden an der Botschaft in Oslo irgendwann wieder öffnen müssen, vielleicht darf dann auch Liu Xiaobo Medaille und Preisgeld abholen. Wenn er seiner Frau davon dann als erstes ein Kleid rot wie das der norwegischen Königin kauft, so wäre es nicht nur ein Liebesbeweis an seine langjährige Partnerin, sondern auch an China und die Freiheit.“

 

Zygmunt Bauman revisited


Etwas mehr als fünf Jahre ist es her, dass ich in Breslau Zygmunt Bauman zum Interview traf. Der ältere, sehr ruhige sprechende, aber doch energische Herr, der mir eine gute Stunde zum Gespräch gegenübersaß, gehört mit Sicherheit zu den beeindruckendsten Interviewpartnern, die ich je getroffen habe. Natürlich, weil er so klug war, aber nicht nur deshalb, sondern auch wegen seiner Milde und Nachdenklichkeit, werden mir Zygmunt Bauman und das Gespräch sicher auf ewig in Erinnerung bleiben.

Dass die manchmal so vertrackte Autokorrektur des Computers aus seinem Nachnamen gerade Batman machen wollte, passt da. Die Künstlerin Shirin Neshat, die norwegische Königin – das sind zwei weitere Gesprächspartner, die lange nachwirkten.

Batman traf ich am Rande, schon wieder der dubiose Autokorrektur-Fehler. Also: Bauman traf ich während des Europäischen Kulturkongresses in Breslau 2011 (hier der Link zu seinem Abschlussvortrag). Ob Polen heute noch so eine Veranstaltung machen würde? Ich weiß es nicht. Baumans Wunsch von damals jedenfalls ist weiterhin aktuell: Zerschneiden wir den Gordischen Knoten, sagte er mir für das Interview in Die Welt:

„Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist ein gordischer Knoten. Er kann nicht gelockert werden. Wenn er zusammenbleibt, wird er nur fester. Wie Alexander der Große uns gelehrt hat, kann er nur durch Zerschlagen gelöst werden. Es ist ohne Frage sehr riskant, Palästina die Unabhängigkeit zu erlauben, denn das wird auf die eine oder andere Art zu einer neuen Front führen. Aber ich denke, das Risiko einer weiteren Verweigerung der Unabhängigkeit ist größer. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist geprägt von lebhafter Feindschaft, vom Unwillen, miteinander zu sprechen, Kompromisse einzugehen und so weiter. Wenn die aktuelle Situation beibehalten wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation.

Die Welt: Sie meinen, den Palästinensern Eigenständigkeit zuzusagen, würde den gordischen Knoten durchschlagen?

Zygmunt Bauman: Lasst es uns versuchen und den Palästinensern eine Stimme geben. Auch aus israelischer Sicht sollte es die bessere Lösung sein, denn zumindest haben die Palästinenser dann eine Wahl. Was sie dann machen, wird ihre Entscheidung als Staat sein. Sie werden dafür verantwortlich sein, was sie tun. Das sind sie jetzt nicht, denn sie sagen: ‚Wir sind besetzt, wir können nichts tun.‘ Es geht hier nicht nur darum, palästinensische Wünsche zufriedenzustellen, sondern den Konflikt zu lösen.“

Heute , am 9. Januar 2016, ist Zygmunt Bauman verstorben, der Konflikt aber dauert weiter an, ja, hat sich sogar verschärft. Auch seine Hoffnung für und seine Aufforderung an Europa, so richtig die Analyse natürlich ist, ist heute – Anfang 2017 – der Realisierung nicht näher gekommen:

„Der einzige Bereich, in dem Europa der Welt wirklich etwas bieten kann, ist die Kultur. Das meine ich in einem anthropologischen Sinne. Vielleicht sollte man besser von einer europäischen Zivilisation sprechen. Europa hat die schwere Kunst gelernt, jahrhundertealte Konflikte, Vorurteile und Feindschaften hinter sich zu lassen.“

Dieses Jahr, wo in Frankreich und in Deutschland gewählt wurde, auch nochmal Baumans Hinweis auf die zwei zentralen europäischen Akteure und ihre gemeinsame schreckliche Historie sowie positive Gegenwart:

„Europa kann dem Rest der Welt und vor allem dem Nahen Osten etwas bieten. Schauen Sie sich Frankreich und Deutschland an, heutzutage lieben diese Länder sich. Es ist also machbar und kein Wunder.“

Das ganze Interview erschien im September 2011 im Feuilleton von Die Welt und ist heut so lesenswert wie damals. Hier nochmal der Link zum Interview in Die Welt.

Noch ein letzter Ausschnitt, der ein wenig Vorlauf braucht und in dem Bauman so souverän mit möglichen Zuspitzungen von Journalistenkollegen umgeht, wie es häufiger sein sollte:

„Die Welt: Kürzlich haben Sie der polnischen Zeitung „Polityka“ ein Interview gegeben, das auch in Deutschland Reaktionen hervorrief. Es geht vor allem um eine Passage. Da ich nur aus einer Übersetzung zitieren kann, korrigieren Sie mich bitte gegebenenfalls. Sie sagten, dass die von Israel erbaute Mauer …

Zygmunt Bauman: Da gab es eine Verzerrung. Ich wollte darauf hinaus, dass die Erinnerung an das Getto tief im jüdischen Bewusstsein ist. Ich überlegte, ob es den Regierenden in Israel in den Sinn gekommen wäre, eine Mauer zu bauen, wenn es dieses Trauma nicht gäbe. Immerhin haben Ihre Landsleute, die Deutschen, ihre Unannehmlichkeiten gelöst, indem sie eine Mauer gebaut haben und sich abgrenzten. Das Gleiche wurde von den Israelis mit der palästinensischen Mauer getan. Ich habe nicht impliziert, dass hinter der Mauer wie im Falle von Warschau Massenmord stattfindet. Die Israelis stellten fest: Hier sind Leute, mit denen wollen wir nicht kommunizieren, von denen wollen wir uns abgrenzen. Da kamen sie auf die Idee, eine Mauer zu bauen.

[…]

Die Welt: Günter Grass hat in einem Interview mit „Ha’aretz“ kürzlich von sechs Millionen deutschen Kriegsgefangenen gesprochen, die in Russland ermordet worden seien. Das ist ihm zum Vorwurf gemacht worden.

Zygmunt Bauman: Ich habe davon gehört, aber das Gespräch nicht gelesen. Meine Worte sind verzerrt worden, also denke ich, da hat auch jemand seine Worte verzerrt. Solange ich es nicht von ihm gehört habe, möchte ich mich nicht dazu äußern. In jedem Fall stimmt es, dass der Krieg unglaublich unmenschlich ist. Das habe ich auch im Interview mit „Polityka“ klargemacht, aber es ging dann leider unter: Ich bin besorgt über die moralische Verwüstung, die die Besetzung Palästinas bei den Israelis anrichtet, besonders bei Jüngeren, die direkt als Teil einer Besatzungsmacht geboren werden. Krieg ist für beide Seiten zerstörerisch, es gibt keine Sieger. Wer angefangen hat, ist eine andere Frage, aber sobald der Krieg einmal begonnen worden ist, gibt es auf beiden Seiten Opfer.

Die Welt: Eine solche Aussage heißt aber nicht, die Singularität des Holocaust infrage zu stellen?

Zygmunt Bauman: Nein. Der Holocaust war eine organisierte, bürokratische Operation mit klarem Zweck. Es waren keine spontanen Tötungen, es war organisiert und geschah über Jahre hinweg. Das Ziel war eines, das den Sowjets mit den deutschen Kriegsgefangenen nicht in den Sinn kam: die Vernichtung einer ganzen Nation und nicht nur des Militärs. Ich habe Günter Grass nicht gelesen, aber nehme nicht an, dass er eine Gleichsetzung im Sinn hatte. Vermutlich meinte er: ‚Ja, wir sind schuld am Holocaust, aber viele von uns sind auch ermordet worden‘, und das stimmt. Es gibt bei einem Krieg nicht die Möglichkeit, dass eine Seite ohne Verluste bleibt. Deshalb muss Krieg ein für allemal beendet werden. Das ist genau das, was Europa dem Rest der Welt bieten kann.“